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andere Zeiten

Ein Kommentar

Ich bin auf Usedom,
was es damals hier zu wenig gab, Cafes, Geschäfte (Shops genannt), Angebote von Festen (einst Feten – heute Events genannt), Hotels, Pensionen, alles gibt es heute im Überfluss, in einem solchen Überfluss, dass es mir fast schon zu viel ist.
Auf dem Frühstücksbuffet im Hotel mit der “ längsten Seetereasse am Achterwasser“ ist alles vorhanden: Wurst, Schinken, Käse Eier gekocht oder als Rühreier mit Speck, Marmelade, Schokolade, Süßes und sauer Eingelegtes, Obst „regional“ (eingekochte Pflaumen) oder „exotisch“ (Ananas) – lieblose Stücken in eine große Schüssel geschnitten. Zwischen all dem die Dekoration – ein Tablet-PC, auf dem eine Diashow farbige Bilder präsentiert von liebevoll arrangierten Buffets – Details für die in real live kein Interesse besteht.  Bunte Bilder müssen wohl sein.
Die zentralen Badeorte Zinnowitz, Heringsdorf, Ahlbeck, Koserow haben Seebrücken mit Geschäften, Buden und Lädchen, um Fisch, Würstchen, Glühwein zu verkaufen. Schmuck- und – früher nannte man es „Andenkenläden“ – haben an der Promenade Sonn- und Feiertags geöffnet und die Menschentrauben hängen an ihnen. Musik beschallt die Touristen von überall her, jeder will wahrgenommen werden mit seinem Angebot, jeder will Wohlbefinden und Urlaubsparadies verkaufen, unzählige Werbeplakate werben für Museen, Ausstellungen und Hotels mit Attraktionen, die man anderen Orts auch haben könnte, aber weil der Urlauber einmal hierher geholt ist, folgen die Attraktionen den Besucherströmen: Ein Haus, das auf dem Kopf steht, Phänomenta, Schmetterlingsfarm, eine Krimi-Erlebnis Abend – wahlweise ein russischer Abend, geheizte Partyzelte für die Silvesterfeiern am Strand.
Land unter.
Ich gehe zu der schmalsten Stelle der Insel. Nur dreihundert Meter sind es zwischen dem Deich am Achterwasser und dem Ostseestrand. Zweimal, im November 1872 und im März 1874, wurde die Insel hier überflutet und viele Menschen starben. Später, viel später hat der Maler Otto Niemeyer-Holstein dort ein Häuschen gebaut. Nach seinem Tod sollte es als Gedenk-Atelier erhalten bleiben. Jedes mal, wenn ich in den letzten Jahren hier war und hinein wollte in das Anwesen, das er Lütten Ort nannte, war Lütten Ort verschlossen. Zu DDR-Zeiten nannte keiner das Anwesen Lütten-Ort, irgendwie war der Künstler ein Fremder geblieben – ein Berliner Laubenpieper. Für die Zeit nach seinem Tod hatte er seinen Lütten Ort dem Staat vermacht. Welchem? frage ich, denn heute am Silvestertag ist Lütten Ort geöffnet, sogar Führungen gibt es durch das Wohnhaus. Ein Häuschen, dessen Grundstock in den 20er Jahren ein Berliner Straßenbahnwagen bildete, ergänzt durch Anbauten, Veranden und Atelier – ein Holzschuppen, in dem einmal auch ausreichend Licht eingeflutet ist, Licht das nun von dem Pavillon verschluckt wird, der heute direkt davor steht. Der Pavillon ist ein großes Informationszentrum, wie es hunderte in ganz Deutschland gibt, mit Informationstresen, Kleiderständer, Toiletten, Stuhlreihen und Videobildschirm auf dem man einen Film über den Künstler sehen kann, und hören, wenn man die Ohrstöpsel dazu mietet. Den Film könnte ich überall sehen – die Führung durch das kleinstubige und einmalige Anwesen ist fabelhaft, aber der Pavillon dominiert den Ort, Lütten Ort ist unübersehbar.
In Heringsdorf und Ahlbeck stehen beide Seebrücken wie Geschwister dicht nebeneinander. Die alte, gediegene und weitgehend so erhaltene Seebrücke in Ahlbeck und die, die in Heringsdorf an der Stelle, an der sich die Historische befand, hergestellt wurde. Eine Seebrücke aus dem modernen Baukasten, der auch in Frankreichs, Italiens und anderen Küsten zum Einsatz kam. Eine Brücke voller Glitzer und Reizüberflutung.
Beliebigkeit statt Exklusivität.                                                                                                                                                 Die Gaststätte der Heringsdorfer Seebrücke nennt sich ponte rialto. Venedig klingt irgendwie wie Vineta und Vineta hat Hochkonjunktur. Vineta Hof, Vineta Café, Vineta Taxi, Vineta Festspiele, Vineta-Therme, Vineta Disco – alles dem Untergang geweiht?
Man hat die alte Sagen wiederentdeckt, auch die der Bernsteinhexe. Aber eine Hexe? Andere haben Weinköniginnen, so gibt es jetzt hier auch eine Bernsteinkönigin, die alljährlich gewählt und herumgereicht wird. Der Usedomer Bernstein wäscht sich aus einer Bernsteinader nahe Koserows unterhalb des Streckelberges. Der Steckelberg ist mit 56 Metzern die höchste Steilküste auf Usedom. Im Usedomer Hinterland gibt es noch einen Berg von 47 Metern, der hoher „Hoher Zwerg“ genannt wird. Das erfahren ich von einem Touristen im Zug, der heute die Usedomer Bäderbahn ist und bis nach Swinoujscie fährt. Ich steige in Ückeritz auf Gleis 13 (!!) ein und löse bis Swinoujscie, man darf es heute auch wieder Swinemünde nennen, wie es mein vater tat. Aber wer seine Kindheit in der DDR verbracht hat, dem geht „Swinoujscie“ mühelos über die Lippen. Dort wandere ich vom Hafen bis zum Strand. Endlich strahlt die Sonne und ich sehe zum ersten Mal meine Insel Usedom: Ahlbeck, Heringsdorf, Koserow von der anderen Seite. Ich sehe zum ersten Mal die andere Promenade, die dazugehört zu Ahlbeck und Heringsdorf und ich gastronomiere im Cafe „Kredenz“.

Ein Kommentar zu “andere Zeiten

  1. gut; gefällt mir

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